1. Ein Kopfschmerz- und Migräne-Tagebuch als App
„Jeder Kopfschmerz ist auf seine eigene Weise individuell. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Die sind aber wegen der großen Bandbreite beim Einzelnen schwer zu entdecken“, sagt Jörg Scheidt, Professor für Informatik an der Hochschule Hof. Um dieser Herausforderung zu begegnen, hat er im Jahr 2011 eine App entwickelt, die mittlerweile unter vielen Kopfschmerz-Patienten ebenso bekannt wie beliebt ist.
1.1 Der "Kopfschmerz-Radar"
„Kopfschmerz-Radar“ heißt die App, die aus dem Forschungsprojekt entstanden ist. Im Grunde handelt es sich dabei eine Art Symptom-Tagebuch: Darin dokumentieren die Teilnehmer ihr Verhalten, ihre Kopfschmerzen und alles, was sonst noch damit zusammenhängen könnte: Wann und wo genau ist ein Kopfschmerz aufgetreten? Wie heftig waren die Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn? Welche Begleiterscheinungen gab es? Wann wurde was gegessen? Welche Medikamente werden eingenommen?
Die Nutzer der App können jederzeit Auswertungen der von ihnen eingegebenen Daten abrufen. Daraus lässt sich zum Beispiel ersehen, wann man wie häufig Migräne hat, wie die Intensität ist und welche der ausprobierten Medikamente am ehesten helfen.
Natürlich wird auch auf Datenschutz geachtet. Alle Daten werden so verfremdet, dass ein direkter Personenbezug nicht mehr hergestellt werden kann. „Wir arbeiten nicht mit Patientennamen, sondern verwenden eine Patienten-ID. Auch eine Adresse wird nicht gespeichert, sondern nur, in welcher Region der Patient wohnt“, erklärt Jörg Scheidt. Auf diese Weise werden die Daten zusätzlich geschützt. Aus den Daten kann somit die tatsächliche Person nicht mehr identifiziert werden.
2. Symptome und Ursachen für Migräne und Clusterkopfschmerz
Das Projekt gibt es für zwei Arten von Kopfschmerzen: Für Migräne und für sogenannte Clusterkopfschmerzen. Die Migräne ist eine Form von anfallsartigen Kopfschmerzen, welche oft als „einseitiges Hämmern“ beschrieben werden, zwischen vier Stunden und drei Tagen andauern und in unregelmäßigen Abständen wiederkehren [2].
Der Clusterkopfschmerz ist deutlich seltener. Dieser ist gekennzeichnet durch schwere Schmerzattacken einseitig im Bereich der Augen, der Stirn oder der Schläfe, welche bis zu drei Stunden dauern [3].
Für beide dieser Kopfschmerzarten gibt es sogenannte Trigger – Reize, die eine Kopfschmerzattacke auslösen können. Diese Trigger sind zum Teil sehr individuell und variieren daher stark. In Studien werden vor allem solche Trigger beschrieben, die in Zusammenhang mit Lebens- und Genussmitteln, dem Lebensstil, hormonellen Veränderungen, Umweltfaktoren und Medikamenten stehen.
Einer der häufigsten und bei beiden Erkrankungen typischen Trigger ist Alkohol. Auch Lebensmittel, welche bestimmte Aminosäuren, Histamin, Serotonin oder Glutamat enthalten, sind häufige Auslöser. Ein gestörter Biorhythmus, Stress und Schlafentzug führen die Liste der Triggerfaktoren an, die im Zusammenhang mit dem Lebensstil stehen. Für Migräne sind zudem hormonelle Einflüsse gut untersucht, insbesondere solche, die im Zusammenhang mit dem weiblichen Zyklus stehen. Umwelteinflüsse wie Lärm, flackerndes Licht, starke Gerüche oder Wetterschwankungen werden ebenfalls als Kopfschmerzauslöser beschrieben. Bei Medikamenten sind es vor allem gefäßerweiternde Substanzen, die als Auslöser einer Migräne- oder Clusterkopfschmerzattacke in Frage kommen.
Da nicht alle Betroffenen gleichermaßen auf diese Trigger reagieren, ist es für jeden von Interesse, seine „individuellen“ Auslöser besser zu erfassen. Auf der anderen Seite helfen die Daten der Wissenschaft, mehr über den Zusammenhang dieser Triggerfaktoren und auch deren Wechselwirkung mit vielleicht noch unbekannten Einflüssen zu erfahren.
Der Wissenschaft bringen die Daten der App-Nutzer wertvolle Einblicke, die anders nicht zu gewinnen wären. Aktuell nutzen immerhin 8.000 Nutzer den Migräne-Radar und 400 den Clusterkopfschmerz-Radar. Außerdem ermöglichen sie dabei eine Datenspende, für die sie bei der Registrierung ihr Einverständnis geben.
Im Laufe der letzten Jahre sind im Migräne-Radar die Daten von mehr als 100.000 Migräneanfällen und im Clusterkopfschmerz-Radar die Daten von mehr als 16.000 Clusterkopfschmerzanfällen erfasst worden. Die hohen Nutzerzahlen ergeben sich auch aus der großen Beliebtheit der App: „Gute Möglichkeiten, alle Symptome zu beschreiben und den Überblick zu behalten, sehr hilfreiches Kopfschmerztagebuch“, schreibt etwa ein Nutzer in einer Bewertung bei Google. Ein weiterer Vorteil für die Forscher: Die Daten liegen gleich in einer standardisierten Form vor [4].
3. Analyse der Migräne-Auslöser mithilfe von Datenauswertung
Dank des standardisierten Datenformats lassen sich verschiedene Parameter unkompliziert abfragen und miteinander vergleichen. Die Software sucht teilweise sogar selbst nach Zusammenhängen.
Nach Jahren des Datensammelns sind nun eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in Fachmagazinen in Vorbereitung. Derzeit arbeiten Scheidt und seine Kollegen zum Beispiel an einer Publikation über geschlechtsspezifische Unterschiede bei Migräne und die Wirksamkeit von Medikamenten speziell bei Rauchern mit Clusterkopfschmerz.
Erst kürzlich wurde ein Artikel im Fachmagazin Acta Neurologica Scandinavica veröffentlicht, in dem anhand der hinterlegten Daten des Kopfschmerz-Radars untersucht wurde, an welchem Wochentag wie häufig Migräne auftritt. Die Ergebnisse: Es gibt individuell wiederkehrende Muster, insgesamt ist aber der Samstag der Tag mit der größten Migräne-Inzidenz [5].
Der Kopfschmerz-Radar zeigt, was mit der sogenannten Bürgerforschung möglich ist. „Kein Sensor kann die Informationen erfassen, die wir von der App bekommen", sagt Scheidt.
3.1 Betroffene erlernen Zusammenhänge
Aber nicht nur die Forschung, auch die Anwender profitieren oft von einer App wie Kopfschmerz-Radar. Denn schon das akribische Dokumentieren in der App schafft ein wichtiges Bewusstsein für die Faktoren, die die Krankheit womöglich beeinflussen.
„Welche Verhaltensweisen sich wie stark auf die Kopfschmerzen auswirken, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Indem sich die Anwender klar machen, wie sie sich vor einer Kopfschmerzattacke verhalten haben, erkennen sie auch ihre individuellen Risiken“, sagt Jörg Scheidt. Dieser Umstand kann natürlich auch die Generalisierbarkeit der Ergebnisse schwierig machen.
3.2 Ähnliche Projekte im Ausland
Auch in anderen Ländern gibt es ähnliche Kopfschmerz-Apps wie den Kopfschmerz-Radar. So auch den „Migraine Buddy“ aus den USA. Hier steht ebenfalls die Dokumentation der Kopfschmerzen im Zusammenhang mit Verhalten und auslösenden Triggern im Vordergrund. Auch hier nutzen die Ärzte diese Daten, um neue Erkenntnisse zu gewinnen [6].
4. Kopfschmerz-App als Therapieergänzung
In Deutschland ist man mit dem Kopfschmerz-Radar bereits einen Schritt weiter: von der bisherigen Symptom-Tagebuch-Funktion hin zu einer integrierten, offiziell empfohlenen Therapieergänzung. So will die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e. V. (DMKG) demnächst ein Register anlegen und dazu eine neue App herausgeben, die für möglichst viele Kopfschmerz-Patienten nutzbar ist. Sie soll auf dem Kopfschmerz-Radar aufbauen und wird gemeinsam mit dessen Machern entwickelt werden. Auch hier sollen die verfremdeten Daten zur Forschung verwendet werden [7].
5. Fazit
Die Idee des Kopfschmerz-Radars dürfte sich also in naher Zukunft weiter verbreiten und damit die Erforschung von Ursachen und Schutzfaktoren bei Kopfschmerzen vorantreiben. Aus dem gewonnenen Wissen wiederum können neue Verhaltensweisen und Therapien abgeleitet werden.
Und natürlich ist aus Perspektive der Datenanalyse eine App nur der erste Schritt. Wearables wie Smartwatches könnten ebenfalls ihre Daten in das Projekt einspeisen. Ebenso ließen sich klinische Daten, die von Ärzten erhoben werden, integrieren. Schlussendlich könnten alle verfügbaren Daten zum Beispiel beim Projekt Kopfschmerz-Radar zusammenfließen und neue medizinische Erkenntnisse ermöglichen.
Ein Projekt wie der Kopfschmerz-Radar hat gleich zweierlei Nutzen: Anwender können sich gezielter mit ihren Kopfschmerzen auseinandersetzen und durch eine individuelle Auswertung ihr Verhalten anpassen sowie mögliche Ursachen finden. Zudem profitiert die Forschung, da durch die Einträge Daten über die Symptomatik und Auslöser gewonnen werden, die auf anderem Wege nicht zur Verfügung stünden.
Die Inhalte dieses Artikels geben den aktuellen wissenschaftlichen Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder und wurden nach bestem Wissen und Gewissen verfasst. Dennoch kann der Artikel keine medizinische Beratung und Diagnose ersetzen. Bei Fragen wenden Sie sich an Ihren Allgemeinarzt.
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