Individualisierte Medizin ist das Ziel
Zwar haben wir alle als Spezies „Mensch” eine Vielzahl an biologischen Gemeinsamkeiten. Doch bringt jeder Mensch einzigartige Eigenschaften mit sich, die Grund sein können, weswegen eine bestimmte Therapie besonders stark anschlagen oder aber nur schlecht wirken kann [1, 2].
Aktuell ermitteln die meisten Studien jedoch lediglich, ob eine Therapie eher hilft, als dass sie schadet. Dabei werden viele Personen pro Studie behandelt, wovon aber nur ein Teil der Teilnehmer profitiert. Für die Praxis kann daraus somit nur begrenzt geschlossen werden, ob die Therapie einem einzelnen Patienten tatsächlich nutzen wird [2].
Die folgende Übersicht verdeutlicht das Problem eindrucksvoll:
Bisher kam Ärzten die Rolle zu, mit ihrer klinischen Erfahrung diese Wissenslücke zu schließen. Doch sind Ärzte auch nur Menschen [3].
Man kann es sich gut am Beispiel einer Arzneimittelallergie verdeutlichen. Betrifft sie 1 von 100 Personen, so kann niemand bei Ersteinnahme wissen, ob er zu den 99 Glücklichen zählen wird. Ziel ist also, diesen hundertsten Fall künftig vorherzusagen und so schlimmeres zu verhindern [4].
Für eine individualisierte Medizin braucht es daher spezifische Informationen über jeden einzelnen von uns. Nur so können Vorbeugung, Früherkennung und Behandlung von Erkrankungen besser auf die Besonderheiten einzelner Menschen abzielen [5, 6].
Was uns hilft, dort hinzukommen
Es gibt eine Reihe an Entwicklungen, die uns helfen, der individualisierten Medizin ein Stück näher zu kommen:
Erstens setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass Gesundheitsdaten – also alle Informationen über den Gesundheitszustand einer Person – in wirklich allen Lebensbereichen entstehen. Informationen, die Aufschluss über unseren Lebensstil und unser Alltagsverhalten geben, sind also mindestens genauso wichtige Gesundheitsdaten wie solche aus Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt [7-14].
Zweitens finden sich immer mehr Möglichkeiten, diese Gesundheitsdaten in allen Lebensbereichen durch verschiedene Anwendungen, Geräte oder Sensoren zu erfassen. Dies geht zum Beispiel mit Hilfe von sogenannten Wearables – kleinen Geräten wie Smartwatch, aufklebbarem „Patch” oder Fitnesstracker. Je nach Wearable können so eine Vielzahl an Körperfunktionen gemessen und gespeichert werden [9, 15-21].
Diese Daten aus dem Alltag fehlten der medizinischen Forschung bisher komplett. Die Möglichkeiten sind daher riesig. Sinnvoll sind diese Daten zum Beispiel zur Früherkennung und Überwachung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen [15].
Drittens entstehen auf diese Weise riesige Datensätze, für die es früher gar nicht ausreichend Speicherkapazitäten gegeben hätte. Heute können diese dagegen nicht nur langfristig gesammelt, sondern auch unkompliziert zwischen Forschungseinrichtungen geteilt werden [22-24].
Und nicht zuletzt gibt es dank künstlicher Intelligenz und Mustererkennung völlig neue Möglichkeiten diese riesigen Datensätze zu analysieren. Langfristig kann dies beispielsweise zum frühzeitigen Stellen von Diagnosen, zur Auswahl und Entwicklung von passenden Therapien oder zur Vorbeugung von Krankheitsentstehung beitragen [9, 14, 25, 26].
Sämtliche Gesundheitsdaten können somit einen großen Beitrag zur medizinischen Forschung leisten. Eine freiwillige und anonyme Datenspende kann genau das ermöglichen [14, 23, 27].
Wo Daten (noch) verloren gehen
Es gibt folglich nicht den einen Bereich, in dem Daten fehlen. Stattdessen entstehen zeitgleich neue, ungeahnte Möglichkeiten in allen Bereichen der Medizin, der Forschung und des Gesundheitssystems. Stellen wir uns als Beispiel einen fiktiven Patientenfall vor:
Frau H. ist eine lebhafte Frau und seit einigen Jahren im Ruhestand. Als langjährige Raucherin hat sie immer mal wieder mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen, so auch aktuell. Ihr Hausarzt ist mit Frau H.s Situation und Krankengeschichte bestens vertraut. In diesem Fall greift er zu einem Antibiotikum und schickt sie mit der Bitte um zeitnahe Rückmeldung nach Hause.
Hier wäre es für die Forschung extrem hilfreich, per Datenspende besser nachvollziehen zu können, welche Medikamente wie häufig in Arztpraxen verschrieben werden und welche Langzeitfolgen sich hieraus ergeben. Ein Beispiel ist das Verschreiben von Antibiotika und ob diese im Verlauf überhaupt zu einer Besserung führen [15].
Anders als die Male zuvor verschlechtert sich Frau H.s Situation diesmal rapide. Sie kriegt zunehmend Atemnot. Auf dem Weg zum Telefon, wird ihr schwindelig und sie fällt. Dank aufmerksamer Nachbarn gelangt sie schließlich ins Krankenhaus.
Viele häufige Erkrankungen wie Atemwegsinfekte werden fast ausschließlich ambulant diagnostiziert und behandelt. Hieraus können sich jedoch später Komplikationen wie Lungenentzündungen ergeben. Für Forscher wäre es sehr hilfreich, wenn die Daten aus Arztpraxis und späterem Krankenhausaufenthalt durch eine Datenspende zusammengeführt und verglichen würden. So könnten frühe Warnzeichen für einen schweren Verlauf besser verstanden und in Zukunft erkannt werden [15].
Im Krankenhaus erwarten Frau H. gleich zwei Behandlungen: eine Antibiotikaanpassung bei bakterieller Lungenentzündung sowie eine Hüft-OP nach Sturz. Denn das Labor der Klinik meldet, dass Frau H.s Erreger gegen eine Reihe an Antibiotika resistent ist, und schlägt eine passende Alternative vor. Erfreulicherweise zeigt das neue Antibiotikum Wirkung und der zeitlich versetzte operative Eingriff verläuft erfolgreich.
In Kliniken werden üblicherweise eine ganze Reihe an Daten erfasst und im Krankenhausinformationssystem gespeichert: Laborbefunde, Medikamentenverordnungen, Ergebnisse von Untersuchungsverfahren oder Eingriffen. Andere Daten wie der Wirkspiegel von bestimmten Medikamenten werden dagegen nur bei bestimmten Fragestellungen erhoben [15].
Hieraus ergeben sich zwei Ansatzpunkte: Erstens gehen all diese Informationen zum Behandlungsverlauf der Forschung aktuell verloren, wenn nicht gerade die Ärzte dieser Klinik ihre Patienten für eine Studie rekrutieren. Aber selbst dann würden die Daten nur einer einzelnen Fragestellung zugute kommen. Zweitens zeigt das Beispiel der fehlenden Wirkspiegelmessung, wie viele Informationen uns Tag für Tag verborgen bleiben [15].
Im Anschluss wird Frau H. zur Kräftigung und Nachsorge in eine Rehaklinik verlegt und kann später zurück nach Hause entlassen werden.
Die Nachsorge nach großen medizinischen Eingriffen wie einer Hüft-OP erfolgt also meist in Rehakliniken oder Arztpraxen. Die Beurteilung, ob ein Eingriff auch tatsächlich zu einer Verbesserung der Gesundheit und Lebensqualität beigetragen hat, lässt sich in der Regel erst hier wirklich beurteilen – also mit großer zeitlicher Verzögerung. Eine Datenspende mit Informationen zu ihrer langfristigen Genesung könnte hier ebenfalls für die Forschung nützlich sein [15].
Auf der Zielgeraden
All dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus unserem Gesundheitssystem, wie er jährlich – so oder so ähnlich – etliche Male abläuft. Doch mit einer Datenspende an die Wissenschaft könnten Patientenfälle wie dieser künftig ganz anders aussehen. Denn mit einer „individuellen Medizin” könnten Forscher mehr über einzelne Menschen lernen und ihnen so eine bessere Behandlung anbieten.
Fehlen nur noch die Daten, idealerweise abgelegt nach einem international anerkannten Standard, wie dem OMOP ( Observational Medical Outcomes Partnership) Common Data Model.
Die Inhalte dieses Artikels geben den aktuellen wissenschaftlichen Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder und wurden nach bestem Wissen und Gewissen verfasst. Dennoch kann der Artikel keine medizinische Beratung und Diagnose ersetzen. Bei Fragen wenden Sie sich an Ihren Allgemeinarzt.
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